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AutorenbildShamsey Oloko

Achtsamkeit ist nicht alles. Doch ohne Achtsamkeit ist alles nichts.

Achtsamkeit ist mittlerweile in aller Munde und schon lange keine Privatsache mehr. Im Gegenteil: Immer mehr Führungskräfte und Unternehmen setzen sich mit Ansätzen wie Mindful Leadership oder Mindful Organisation auseinander. Doch wie bei allen Trendthemen schlüpfen auch beim Thema Achtsamkeit zahlreiche Kuckuckskinder unter die wärmenden Fittiche ihrer Popularität. Daher beschäftige ich mich schon länger mit der Frage: Bin ich achtsam, wenn ich mir durch Visualisierungen im Geist Kraft und Energie spende? Oder durch tägliches Manifestieren den Versuch unternehme, die Realität zu beeinflussen? Oder mich mit geschlossenen Augen in frühere Leben zurückführen lasse?


Es mag gut sein, dass einige Ansätze im Dunstkreis der Achtsamkeit durchaus positive Wirkungen für mich und meine Umwelt erzeugen und für den einen oder anderen unbedingt empfehlenswert sind. Doch wenn das alles Achtsamkeit sein soll, dann bleibt dieser Begriff unscharf und beliebig – und steht für alles und nichts.


Eine Definition der Achtsamkeit


Mit den Worten von Jon Kabat-Zinn, einem weltweit führenden Lehrer der Achtsamkeitspraxis, lässt sich Achtsamkeit wie folgt definieren:

„Achtsamkeit ist die Bewusstheit, die sich durch gerichtete, nicht wertende Aufmerksamkeit im gegenwärtigen Augenblick einstellt.“

Achtsamkeit ist also Bewusstheit für mein Bewusstsein. Bewusstsein wiederum ist der grundsätzliche Resonanzboden all dessen, was ich wahrnehmen kann, d.h. meine Gedanken, meine Gefühle und meine Sinneseindrücke. Unachtsam bin ich immer dann, wenn ich bspw. abgelenkt bin, im Grübeln versinke oder mich in meinen Erinnerungen an die Vergangenheit und in meinen Vorstellungen von der Zukunft verliere. Auch in diesem Fall gibt es zwar Bewusstsein, denn da ist ja ein subjektives Erleben bspw. in Form meines Grübelns. Es ist aber nicht Achtsamkeit, da ich mir dieses Erlebens selbst nicht bewusst bin, mir also die Bewusstheit dafür fehlt.


Es wird schnell klar, dass die Definition von Jon Kabat-Zinn vieles ausschließt, was unter dem Label Achtsamkeit verkauft wird. Dabei geht es mir wie gesagt nicht darum, alles, was nicht zur Achtsamkeitspraxis zählt, pauschal zu diskreditieren, sondern vielmehr darum, es als das zu benennen, was es ist, nämlich schlichtweg keine Achtsamkeit und auch keine Achtsamkeitspraxis. Achtsamkeit ist nicht Entspannung und Achtsamkeit ist auch keine Energiearbeit. So wie Ernährung mein Fitnesstraining beeinflusst, ohne dabei selbst Fitnesstraining zu sein, so gibt es Ansätze, die meine Achtsamkeitspraxis beeinflussen, ohne selbst Achtsamkeitspraxis zu sein.


Die obige Definition verdeutlicht, was Achtsamkeit ist, jedoch nicht unbedingt, wozu sie beiträgt (Ziel) und wie sie zu praktizieren ist (Ansatz). Blickt man mit diesen beiden Fragen im Hinterkopf etwas genauer auf die Achtsamkeit, so lassen sich zwei Formen unterscheiden, die in Lehre und Praxis mitunter vermischt werden: Säkulare und spirituelle Achtsamkeit.

Ein paar Gedanken zur säkularen Achtsamkeit


Die säkulare Form der Achtsamkeit geht auf die Arbeit von Jon Kabat-Zinn zurück, der die Achtsamkeitspraxis in den 70er Jahren aus dem Buddhismus übernommen und in ein Programm namens „Mindfulness-based Stress Reduction“ überführt hat.


Wie der Name des Programms bereits verrät, steht die Stressreduktion als wichtiges Ziel im Zentrum der Achtsamkeitspraxis. Schaut man sich heutzutage Weiterentwicklungen dieses säkularen Ansatzes an, so stößt man – gerade im Umfeld der Wirtschaft – auf weitere Zielsetzungen wie eine Zunahme an Resilienz, Konzentration, Gelassenheit, Mitgefühl, Präsenz, Selbstregulation etc. Diese Zunahme soll dabei helfen, das Leben besser zu bewältigen und zu gestalten, und zwar sowohl beruflich als auch privat. Man kann also sagen, dass säkulare Achtsamkeit zum Ziel hat, zur Optimierung des Lebens beizutragen.


Mit Blick auf die dazugehörigen Ansätze gelingt ihr das, indem sie mit verschiedenen Meditationstechniken, wie bspw. dem Offenen Gewahrsein, eine gewisse Form der Selbstdistanzierung kultiviert. Bspw. nehme ich wahr: „da ist Wut“, anstelle von „ich bin wütend“. In dem Moment, wo ich beginne, mich nicht mehr mit meinen Gedanken, Gefühlen und Emotionen zu identifizieren, kann ich diese Erscheinungen besser loslassen. Auch der Fokus auf den Atem im Sinne der Atemmeditation unterstützt dieses Nicht-Identifizieren mit den Erscheinungen in meinem Bewusstsein. Damit Achtsamkeit nicht kühl und distanziert bleibt, gehört in der Regel auch die Kultivierung des Mitgefühls zum engeren Kreis der Achtsamkeitspraxis.


Ein paar Gedanken zur spirituellen Achtsamkeit


Während bei der säkularen Achtsamkeit zwar eine Distanz zum Ich-Gefühl aufgebaut, dieses Ich-Gefühl als solches jedoch nicht weiter hinterfragt wird, lässt sich im Buddhismus, dem Ursprung der Achtsamkeitspraxis, die Vorstellung eines „Nicht-Ichs“ finden. Dabei handelt es sich um eine etwas schwer verständliche Vorstellung, die mittlerweile jedoch auch durch neurowissenschaftliche Forschungen gestützt wird.

Ausgehend von dieser Vorstellung, verfolgt die buddhistische bzw. spirituelle Achtsamkeitspraxis daher einen grundlegend anderen Ansatz als die säkulare: Es gilt, das Ich-Gefühl bzw. die Illusion eines festen „Ichs“ durch Einsicht in die wahre Natur der Dinge zu transzendieren, d.h. zu überwinden!


Eine Aussage wie „durch Achtsamkeit werde ich resilienter“ ist in der spirituellen Achtsamkeitspraxis daher sinnlos, da es kein festes Ich gibt, das resilienter werden kann. Dasselbe gilt für einen Zuwachs an Selbstliebe, denn so wie bspw. eine Fata Morgana in Form einer Blume kein wirkliches Wasser braucht, da sie eine Illusion ist, so benötigt auch das „Ich“ keine Liebe, da es ebenfalls nur eine Illusion ist. Erst durch die Erkenntnis, dass das Ich-Gefühl eine Hervorbringung des Bewusstseins ist, lässt sich wahre Freiheit von dem „Leid des Lebens“ erlangen.


Bei diesem „Leid des Lebens“ handelt es sich nicht nur um existenzielle Krisen oder unvermeidliche Entwicklungen wie Krankheit, Alter oder Tod, sondern auch um subtile Formen des Leidens, wie bspw. Unzufriedenheit, Langeweile, Ungeduld etc. In jedem Moment, wo mein Wille nicht das bekommt, was er möchte, ist da ein mehr oder weniger starkes Gefühl der Unzufriedenheit in mir, und das ist bereits das „Leid des Lebens“.

Dort, wo säkulare Achtsamkeit dieses „Leid des Lebens“ durch Selbstdistanzierung minimiert, hat die spirituelle Praxis dessen restlose Auflösung zum Ziel, indem sie das Problem im wahrsten Sinne des Wortes an der Wurzel packt und das Ich überwindet. Das ist zugegebenermaßen ein radikal anderer Ansatz als bei der säkularen Achtsamkeit und wirkt hier im Westen oftmals befremdlich, stehen wir doch in einer Tradition, die von einem festen Wesenskern, einer Seele, ausgeht. Begriffe wie „Ich-Auflösung“ oder „Auslöschung des Egos“ sind unglücklich gewählt und schüren eher Ängste, als dass sie einladend wirken. Schon allein deshalb ist spirituelle Achtsamkeit nicht jedermanns Sache!


Fazit


Achtsamkeit kann also auf eine säkulare oder spirituelle Art und Weise praktiziert werden. Als Trainer für Achtsamkeit vermittle ich in der Regel den säkularen Ansatz – schon allein deswegen, weil es häufig der Wunsch nach Optimierung des Lebens oder der Arbeit ist, der Menschen und Unternehmen zur Achtsamkeit führt. Da die säkulare Achtsamkeit nicht so voraussetzungsreich ist wie die spirituelle und ihre Wirkung zudem durch moderne neurowissenschaftliche Studien gestützt wird, eignet sie sich m.E. sehr gut zur Einführung in das Thema. Privat praktiziere ich jedoch die spirituelle Form der Achtsamkeit, da ich nur in ihr den Weg zu innerem Frieden und Freiheit sehe.

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